‚Ist doch nichts passiert‘

Warum „Ist doch nichts passiert“ schädlich sein kann und welche Alternativen wir verwenden sollten

In Momenten, die uns besonders herausfordern, ist es verlockend zu sagen „Ist doch nichts passiert“. Wir erhoffen uns dadurch, die Situation schnell und einfach zu beruhigen. Dabei ist es egal ob es um eine ‚kleine‘ Verletzung oder einen Wutausbruch geht.

Doch dieser Satz kann den emotionalen Bedürfnissen des Kindes nicht gerecht werden. Anstatt die Gefühle des Kindes abzutun, sollten wir bewusst anerkennen, was es erlebt hat, und mit Empathie reagieren. Auch wenn uns Erwachsenen das oft sehr schwer fallen kann.

Es ist eine Situation, die viele Eltern kennen: Dein Kind stolpert, fällt hin und fängt an zu weinen. Oft ist es einfach die erste Reaktion. „Ist doch nichts passiert!“ Wir wollen trösten, die Situation entschärfen und verhindern, dass sich das Kind allzu lange mit dem Schmerz oder der Traurigkeit beschäftigt.

Meistens sind es wir als Eltern, die ein weinendes Kind nur schwer aushalten. Das kann daran liegen, dass wir es nicht gut aushalten, wenn das Kind Schmerzen hat. Bei Wutausbrüchen im Supermarkt ist es oft die Gesellschaft die (vielleicht unbewusst) Druck ausübt. Deshalb neigt man dazu, so etwas zu sagen, um die Situation zu entkräften. Doch was viele nicht bedenken: Mit diesen Worten sprechen wir dem Kind die Berechtigung für seine Gefühle ab. Doch warum ist es so wichtig, dass wir die Emotionen unserer Kinder ernst nehmen?

Stell dir vor, du gehst mit deinem Kind durch den Park, es läuft fröhlich voran und stolpert auf einmal über einen Stock. Es weint. Du empfindest es möglicherweise als nicht so schlimm und sagst ‚Komm, ist doch nichts passiert‘.

Im Winter kommt überraschend Blitzeis, du hast es eilig und willst zu einem Termin und rutschst aus. Deine Hand tut höllisch weh. Würde dein Kind jetzt sagen ‚Komm, ist doch nichts passiert‘? Ich denke nicht.

Gefühle sind immer real

Für Erwachsene mag ein kleiner Kratzer oder ein harmloser Sturz keine große Sache sein, aber für ein Kind können solche Erlebnisse sehr intensiv sein. Kinder fühlen Schmerzen, Angst oder Frustration auf ihre eigene, ungefilterte Weise. Indem wir ihre Gefühle immer wieder klein reden, signalisieren wir ihnen, dass ihre Wahrnehmung der Realität falsch oder unwichtig ist. Dies kann langfristig dazu führen, dass Kinder anfangen, ihre eigenen Gefühle zu unterdrücken oder nicht ernst zu nehmen, was später wirklich zu einem Problem werden kann.

Ich habe hier noch einen Beitrag über die Glaubenssätze geschrieben und was sie mit einem Kind machen.

Gefühle zu benennen hilft beim Verarbeiten

Wenn wir die Gefühle unserer Kinder ernst nehmen und ihnen helfen, diese zu benennen – „Das hat dir jetzt richtig wehgetan“ oder „Du hast dich erschrocken, als du gefallen bist“ – geben wir ihnen die Möglichkeit, ihre Emotionen besser zu verstehen. Dies fördert die emotionale Intelligenz und hilft ihnen, später im Leben besser mit ihren Gefühlen umzugehen.
Vorsicht beim benennen: einfach ganz sachlich bleiben und auch nicht ’schlimmer reden‘ 😉

Vertrauen und Bindung stärken

Kinder brauchen das Gefühl, dass sie in ihren Gefühlen und Erlebnissen ernst genommen werden. Wenn wir sie ständig mit „Ist doch nicht so schlimm“ abspeisen, kann das Vertrauen in die Eltern-Kind-Beziehung leiden. Indem wir empathisch reagieren, stärken wir das Vertrauen des Kindes in uns als Bezugsperson und schaffen eine stabile emotionale Bindung.

Vorbild für den Umgang mit Gefühlen

Kinder lernen von uns, wie sie mit ihren eigenen Emotionen umgehen sollen. Wenn wir Schmerz oder Traurigkeit klein reden, zeigen wir ihnen, dass es „nicht in Ordnung“ ist, solche Gefühle zu haben oder zu zeigen. Dadurch könnte das Kind lernen, seine Gefühle zu unterdrücken oder sich für diese zu schämen. Einfühlsames Zuhören und den Wert der Gefühle wahrnehmen hingegen zeigt dem Kind, dass alle Emotionen – auch die unangenehmen – ihren Platz haben und wichtig sind.
Auch wenn sie (für uns) unangenehm sind: sie dürfen da sein.
Wenn du als Elternteil eine Situation gerade nicht aushalten kannst, dann ist auch das in Ordnung. Du kannst zum Beispiel sagen, dass du es gerade nicht erträgst, wenn dein Kind so laut ist.
So lernt dein Kind auch, dass es in Ordnung ist, sich aus Situationen rauszunehmen.

Langfristige Auswirkungen des ‚Kleinredens‘

Wenn Kinder immer wieder erleben, dass ihre Gefühle als „übertrieben“ oder „unnötig“ abgetan werden, können sie das Vertrauen in ihre eigenen Empfindungen verlieren. Das kann zu Unsicherheiten im Erwachsenenalter führen, wenn es darum geht, eigene Bedürfnisse und Emotionen zu erkennen und zu äußern. Der Satz „Ist doch nichts passiert“ oder „Alles ist gut“ mag kurzfristig beruhigend wirken, kann aber langfristig das emotionale Wohlbefinden des Kindes beeinträchtigen.

Alternative Reaktionen

Anstatt die Gefühle klein zureden, können wir als Eltern anders reagieren. Hier sind einige Beispiele, wie du empathisch und unterstützend reagieren kannst:

  • „Das tut bestimmt weh, oder?“ – Zeige Verständnis für die Situation und signalisiere, dass der Schmerz real ist und auch real sein darf.
  • „Hast du dich erschrocken?“ – Erkenne auch die emotionale Reaktion an, nicht nur den körperlichen Schmerz.
  • „Du bist hingefallen, aber du hast es geschafft, wieder aufzustehen!“ – Lobe das Kind für seine Stärke, anstatt den Schmerz zu ignorieren.

Der Satz „Ist doch nichts passiert“ scheint harmlos, doch er kann viel Schaden anrichten, wenn es darum geht, die Gefühle unserer Kinder ernst zu nehmen. Indem wir ihre Emotionen anerkennen und sie unterstützen, lernen sie, dass ihre Empfindungen wichtig sind und dass es in Ordnung ist, Schmerz oder Traurigkeit zu fühlen. So fördern wir nicht nur eine gesunde emotionale Entwicklung, sondern auch eine starke und vertrauensvolle Eltern-Kind-Beziehung.

Spätfolgen von übergangenen Gefühlen

Das ständige Ignorieren oder Übergehen von Gefühlen, insbesondere in der Kindheit, kann langfristige Auswirkungen auf das emotionale und psychische Wohlbefinden einer Person haben. Wenn Kinder lernen, dass ihre Gefühle abgetan oder nicht ernst genommen werden, kann dies dazu führen, dass sie ihre eigenen Emotionen unterdrücken oder als unwichtig empfinden. Diese „übersprungenen“ oder verdrängten Emotionen können sich später in Form von verschiedenen Verhaltensmustern oder sogar psychischen Belastungen zeigen.

Hier einige potenzielle Spätfolgen übergangener Gefühle:

  1. Schwierigkeiten in der Emotionsregulation: Wenn Menschen nicht gelernt haben, ihre Gefühle zu verstehen und auszudrücken, fällt es ihnen als Erwachsene schwer, mit ihren Emotionen umzugehen. Sie neigen oft dazu, Wut, Traurigkeit oder Frustration in ungesunder Weise auszudrücken oder vollständig zu unterdrücken.
  2. Geringes Selbstwertgefühl: Das wiederholte Gefühl, dass die eigenen Emotionen nicht wichtig oder legitim sind, kann das Selbstwertgefühl senken. Kinder, deren Gefühle ignoriert werden, entwickeln oft das Gefühl, dass sie selbst nicht wertvoll oder nicht „richtig“ sind.
  3. Psychische Belastungen und Stressanfälligkeit: Unverarbeitete Emotionen können zu erhöhtem Stress und einem größeren Risiko für psychische Probleme wie Angststörungen, Depressionen und posttraumatische Belastungsstörungen führen. Der Zusammenhang zwischen unterdrückten Emotionen und chronischem Stress ist gut dokumentiert.
  4. Probleme in zwischenmenschlichen Beziehungen: Menschen, die es nicht gewohnt sind, ihre Gefühle auszudrücken oder die eigenen Bedürfnisse anzuerkennen, können Schwierigkeiten haben, intime und offene Beziehungen zu führen. Das mangelnde Vertrauen in die eigenen Gefühle erschwert es, authentisch mit anderen zu kommunizieren und Nähe zuzulassen.
  5. Körperliche Auswirkungen: Langfristige emotionale Unterdrückung kann auch körperliche Auswirkungen haben. Chronischer Stress, der oft mit unterdrückten Emotionen einhergeht, wird mit zahlreichen gesundheitlichen Problemen in Verbindung gebracht, darunter Bluthochdruck, Immunschwäche und Herz-Kreislauf-Erkrankungen.

Die Förderung eines offenen und unterstützenden Umfelds für den Ausdruck von Emotionen ist daher ein wichtiger Bestandteil der Erziehung und der seelischen Gesundheit eines Kindes. Eltern und Bezugspersonen können einen großen Unterschied machen, indem sie aktiv zuhören, Emotionen anerkennen und Raum für den Ausdruck von Gefühlen schaffen.

Quelle:
Buch: Das Buch, von dem du dir wünschst, deine Eltern hätten es gelesen*

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